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Update Beihilferecht: Europäische Kommission muss Vorliegen einer Beihilfe abschließend prüfen

16. November 2022

Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hat am 16. November 2022 (T-469/20, Niederlande / Kommission, ECLI:EU:T:2022:713) ein wegweisendes Urteil im EU-Beihilferecht gefällt.

Das Urteil wird nicht nur wegen der Relevanz für den Kohleausstieg in den Niederlanden Aufmerksamkeit erregen. Das Gericht gebietet einer gängigen Praxis der Europäischen Kommission Einhalt, wonach diese das Vorliegen einer Beihilfe in ihren Entscheidungen regelmäßig offenlässt, wenn sich die Beihilfe ohnehin nach einschlägigen Vorschriften rechtfertigen lässt. Zukünftig wird sich die Europäische Kommission also festlegen müssen, ob eine Beihilfe vorliegt und nur dann auf eine mögliche Rechtfertigung eingehen können.

Was war Gegenstand des Gerichtsverfahrens?

Im Jahr 2019 haben die Niederlande den Ausstieg aus der Nutzung von Kohle zur Stromerzeugung beschlossen. Spätestens ab dem 01. Januar 2030 soll damit kein Kohlestrom mehr erzeugt werden. Vier von den fünf in den Niederlanden betriebenen Kohlekraftwerken wurde eine Übergangsfrist von fünf bis zehn Jahren eingeräumt. In diesem Zeitraum haben sie die Möglichkeit, getätigte Investitionen wieder hereinzuholen, sich auf einen anderen Energieträger einzustellen oder sich auf die Stilllegung vorzubereiten. Das fünfte Kraftwerk, Hemweg 8, musste jedoch bereits Ende 2019 schließen, denn die Umstellung der Technik war hier nicht möglich und der Wirkungsgrad der Kohlestromerzeugung im Vergleich niedrig. Ohne diese Schließungsanordnung wäre Hemweg 8 noch einige Jahre weiter betrieben worden.

Vor diesem Hintergrund beschloss die niederländische Regierung, der Betreibergesellschaft als Ausgleich für den durch die vorzeitige Schließung entstandenen Schaden (z.B. keine Amortisierung von Investitionen in die Anlage) eine Entschädigung in Höhe von 52,5 Mio. EUR zu gewähren.

Mit Beschluss vom 12. Mai 2020 erklärte die Europäische Kommission diesen Entschädigungsanspruch als mit dem Binnenmarkt vereinbar. Sie ließ offen, ob die Entschädigung tatsächlich eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV beinhaltet und stützte sich dabei darauf, dass die Beihilfe ohnehin für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wurde.

Die Niederlande erhoben daraufhin Nichtigkeitsklage zum EuG und beantragten die Aufhebung des Beschlusses vom 12. Mai 2020.

Wie hat das EuG entschieden?

Das EuG stellt klar, dass die Europäische Kommission nicht über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Binnenmarkt entscheiden kann, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt. Erst wenn sie das Vorliegen einer Beihilfe bejaht, soll sich die Europäische Kommission der Frage widmen können, ob die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist.

Darüber hinaus hat die Europäische Kommission nach Auffassung des EuG gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen, weil die Niederlande durch den Beschluss vom 12. Mai 2020 keine genauen Kenntnisse über die Rechte und Pflichten des Mitgliedstaats erlangt habe.

Was bedeutet das Urteil für den Kohleausstieg in den Niederlanden?

Durch die Aufhebungen des Beschlusses der Europäischen Kommission fällt dessen Genehmigungswirkung weg, wodurch das beihilferechtliche Durchführungsverbot (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV) wieder auflebt. Dies gilt jedoch nur, wenn die Entschädigung eine Beihilfe ist. Die Niederlande bestreiten dies und von der Europäischen Kommission ist es bisher nicht entschieden worden. Bis zu einer abschließenden Entscheidung der Europäischen Kommission über den Beihilfecharakter verbleibt daher Unsicherheit für den Beihilfegeber und den Beihilfeempfänger, ob die Entschädigung gewährt werden durfte.

Welche Bedeutung hat das Urteil über diesen Einzelfall hinaus?

Die Aufforderung des EuG an die Europäische Kommission, sich bei der Frage, ob eine Beihilfe vorliegt, eindeutig zu positionieren, dürfte über diesen Einzelfall hinaus erhebliche Auswirkungen haben. Denn nach ständiger Rechtsprechung muss die Europäische Kommission, wenn sie nach Abschluss der Vorprüfung (sog. Phase 1) nicht zu der (abschließenden) Überzeugung gelangen kann, dass keine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt oder aber eine Beihilfe vorliegt, die mit dem Binnenmarkt vereinbar ist, zwingend die vertiefte Prüfung der staatlichen Maßnahme einleiten (sog. Phase 2). Die Europäische Kommission hat insoweit kein Ermessen. Selbst wenn also die Rechtfertigung einer Beihilfe einleuchtet, muss sie bei Zweifeln darüber, ob überhaupt eine Beihilfe vorliegt, die Phase 2 einleiten.

Für die Europäische Kommission könnte damit die Prüfung staatlicher Maßnahmen nach Art. 107 AEUV deutlich umfangreicher werden, wenn sie nun häufiger Phase 2-Verfahren einleiten muss. Das Urteil wird für die Europäische Kommission jedoch auch ein Anlass sein, dass sie sich – wo dies möglich ist – noch innerhalb der Phase 1 klarer als bisher zum Vorliegen einer Beihilfe positioniert und damit die Einleitung von Phase 2 ausschließt. Für die Parteien des Beihilfeverfahrens und die sonst betroffenen Marktteilnehmer dürfte dies zusätzliche Rechtssicherheit bedeuten.

Abzuwarten bleibt, ob die Europäische Kommission das Urteil des EuG mit einem Rechtsmittel zum EuGH angreift.

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Jennifer Wagener
Jennifer Wagener

Leitung Marketing, Business Development & Kommunikation

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