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- Sein oder Nichtsein - Die Geltung der Mindesthonorare gemäß § 7 HOAI 2013 (wieder) vor dem EuGH

07. Mai 2021

Sind die in § 7 HOAI 2013 vorgesehenen Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen von Architekten und Ingenieuren auch nach Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit dieser Regelung durch das Urteil des EuGH vom 4. Juli 2019 (Rs. C-377/17) anwendbar?

Dieser Frage widmet sich der EuGH derzeit in einem durch den BGH nach Art. 267 AEUV eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren (Rs. C-261/20) in der Sache Thelen Technopark Berlin GmbH gegen MN (handelnd unter Ingenieurbüro für Versorgungstechnik, im Folgenden „MN“).

Am 3. Mai 2021 fand die mündliche Verhandlung in Luxemburg statt, an der MN als Kläger und Revisionsbeklagter sowie die Europäische Kommission („Kommission“) und das Königreich der Niederlande („Niederlande“) als Beteiligte teilnahmen.

Sowohl die Niederlande (hierzu unter 3.1) als auch die Kommission (hierzu unter 3.2) vertraten die Ansicht, dass die in § 7 HOAI 2013 geregelten Mindestsätze für das streitige Rechtsverhältnis nicht zur Anwendung gelangen können. MN demgegenüber ging von einer bloßen ex nunc–Wirkung des Feststellungsurteils des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren und damit von der prinzipiellen Anwendbarkeit des § 7 HOAI 2013 auf den vorliegenden Rechtsstreit aus (hierzu unter 3.3).

1. Ausgangsverfahren

Hintergrund des Verfahrens ist ein typischer Fall einer so genannten „Aufstockungklage“: Die Parteien hatten im Jahr 2016 einen Ingenieurvertrag geschlossen, in dem sich der Kläger (MN) gegen Zahlung eines Pauschalhonorars zur Erbringung von Leistungen gem. § 55 HOAI 2013 für ein Bauvorhaben in Berlin verpflichtete. Dabei unterschritten die Vertragsparteien bewusst und einvernehmlich die eigentlich nach der HOAI 2013 geltenden Mindestsätze, weil der Vertrag ansonsten für die Beklagte, die Thelen Technopark Berlin GmbH, nicht wirtschaftlich gewesen wäre. Für einen höheren Preis hätte die Beklagte den Vertrag daher nicht abgeschlossen. Das war dem Kläger auch bekannt.

Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag im Jahr 2017 gekündigt hatte, rechnete er seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung nun aber nicht nach der vereinbarten Pauschale, sondern nach den Mindestsätzen der HOAI 2013 für einen deutlich höheren Preis ab. Diese Forderung konnte der Kläger in erster Instanz unter Berufung auf die nach der HOAI geltenden Mindestsätze nahezu vollständig durchsetzen. Auch in zweiter Instanz wurde dem Kläger weitgehend Recht gegeben, so dass die Beklagte mit der Revision vor dem BGH ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.

Die Besonderheit des Verfahrens liegt darin begründet, dass der EuGH mit Urteil vom 4. Juli 2019 im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens (Rs. C-377/17) bereits festgestellt hatte, dass die verbindliche Festsetzung von Mindest- und Höchstsätzen für die Honorare für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren in der HOAI gegen das Unionsrecht verstößt und Deutschland damit seine Verpflichtungen aus § 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG (sog. Dienstleistungsrichtlinie) verletzt hat.

2. Die Vorlagefrage

Die für den Ausgang entscheidende Frage wird daher sein, ob sich eine Vertragspartei auf eine Regelung (hier § 7 HOAI 2013) berufen kann, wenn die Unionsrechtswidrigkeit der fraglichen Regelung (wie vorliegend in Folge eines Verstoßes gegen die Dienstleistungsrichtlinie) durch ein Feststellungsurteil des EuGH im Nachhinein explizit ausgesprochen wurde (Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 260 Abs. 1 AEUV).

Der BGH hat dem EuGH deshalb die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob § 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen des laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die – nach der Entscheidung des Gerichtshofs – dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI 2013 über verbindliche Mindestsätze auf den Vertrag der Parteien nicht mehr anzuwenden sind.

Diese Frage ist deshalb von besonderer praktischer Relevanz, weil der EuGH in seiner Rechtsprechung bisher nur anerkannt hat, dass sich Einzelne in bestimmten Fällen (bspw. bei fehlender oder unzureichender Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht) gegenüber Mitgliedstaaten (sozusagen „vertikal“) auf die unmittelbare Wirkung von Richtlinien berufen können, sofern die Richtlinienbestimmung inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint. Bisher galt dies aber nicht auch für Beziehungen zwischen Privaten (sozusagen „horizontal“). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Richtlinie nämlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass im Rahmen privater Rechtsverhältnisse Einzelnen gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich sei. Diese Spruchpraxis wird damit begründet, dass anderenfalls der Europäischen Union die Befugnis eingeräumt würde, auch über eine „bloße“ Richtlinie mit unmittelbarer Wirkung zulasten Einzelner Verpflichtungen anzuordnen, obwohl ihr dies ansonsten nur dort gestattet ist, wo ihr ausdrücklich die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen wurde, die im Gegensatz zu Richtlinien nicht mehr in nationales Recht umgesetzt werden müssen sondern eigenständig bereits unmittelbare Geltung entfalten.

3. Erkenntnisse der mündlichen Verhandlung

In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass sowohl die Niederlande als auch die Kommission für den vorliegenden Sachverhalt eine unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen befürworten. Dieses Ergebnis wurde jedoch unterschiedlich begründet:

3.1 Niederlande

Nach Ansicht der Niederlande sei die unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie zwischen Privaten (also „horizontal“) in der vorliegenden Konstellation ausnahmsweise deshalb geboten, weil die Bestimmungen der Richtlinie nicht als „Schwert“ (d.h. zur Begründung einer neuen Verpflichtung) sondern als „Schild“ (d.h. zur Abwehr gegenüber einem richtlinienwidrigen Verbot) eingesetzt würden. Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie sei also auch zwischen Privaten immer dann möglich, wenn dadurch keine neuen Verpflichtungen für den Einzelnen begründet würden.

Auf den Hinweis des Gerichtshofs, dass eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie vorliegend zwar keine Verpflichtung, wohl aber eine Belastung der Klagepartei mit sich brächte, erwiderten die Niederlande, dass eine zusätzliche Belastung der Klagepartei insofern auszuschließen sei, als das, was zwischen den Parteien ursprünglich vertraglich vereinbart wurde, in Folge der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie ja gerade gelte. In diesem Fall würde die unmittelbare Wirkung der Richtlinie daher im Sinne eines Schutzschildes ausschließlich dazu dienen, dass eine rechtswidrige nationale (Verbots-) Regelung unangewendet bleiben müsse. Darüber hinaus seien lediglich mittelbare Belastungen nicht mit einer sich aus der Richtlinie unmittelbar ergebenden Verpflichtung gleichzusetzen.

3.2 Kommission

Die Kommission teilte im Ergebnis die niederländische Rechtsauffassung, beruft sich aber nicht auf eine ausnahmsweise mögliche „horizontale“ unmittelbare Wirkung der Richtlinie, sondern vertritt die Ansicht, dass die Richtlinie in der vorliegenden Konstellation eine unmittelbare „vertikale“ Wirkung als Abwehrrecht gegen einen Eingriff des Staates entfalten müsse. Schließlich hätten sich die Parteien in Ausübung ihrer Vertragsfreiheit bewusst und einvernehmlich gemeinsam auf einen günstigeren als den gesetzlich vorgegebenen Preis geeinigt. In dieses Recht der Vertragsfreiheit, zu dem es insbesondere auch gehöre, die Preise eines Vertrages als essentialia negotii frei zu bestimmen, habe der Staat mit den unionsrechtswidrigen Regelungen der HOAI eingegriffen. Der Richtlinie müsse daher zugunsten beider Vertragsparteien eine unmittelbare „vertikale“ Wirkung als Abwehr gegen diesen staatlichen Eingriff in die Ausübung ihrer Vertragsfreiheit zugutekommen.

Hilfsweise müssten sich die Parteien jedenfalls auf die durch Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („GRC“) geschützte Vertragsfreiheit stützen dürfen, dem in diesem Fall alternativ zur Dienstleistungsrichtlinie eine unmittelbare Wirkung zugesprochen werden müsse. Insbesondere sei der Anwendungsbereich der GRC durch die Dienstleistungsrichtlinie eröffnet und die Regelung bedürfe zu ihrer unmittelbaren Anwendung keiner weiteren Konkretisierung. Zwar sei es zutreffend, dass die durch Art. 16 GRC geschützte Unternehmensfreiheit, als deren Ausgestaltung auch die Vertragsfreiheit anerkannt sei, im öffentlichen Interesse auch Einschränkungen unterliegen könne. Diese müssten dann aber wiederum ihrerseits rechtmäßig und verhältnismäßig sein, was bei § 7 HOAI 2013 jedenfalls nicht der Fall sei.

3.3 Ingenieurbüro

Das Ingenieurbüro MN als Kläger des Ausgangsrechtsstreits stützte seine Argumentationslinie im Wesentlichen darauf, dass § 7 HOAI 2013 so lange gelten müsse, wie die rechtswidrige Regelung nicht aufgehoben worden sei, denn dem Feststellungsurteil in einem Vertragsverletzungsverfahren komme ausschließlich eine ex nunc-Wirkung ab dem Zeitpunkt des Urteilsspruchs, nicht aber eine ex tunc-Wirkung von Anfang an zu. Aus Gründen der Rechtssicherheit könne auch eine unionsrechtswidrige Regelung daher nicht rückwirkend für unwirksam erklärt werden.

Die Kommission erwiderte hierauf, dass der Kläger jedenfalls nach Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit des § 7 HOAI 2013 durch das Feststellungsurteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren nicht mehr auf die Geltung der Regelung vertrauen konnte. Nach Treu und Glauben sei der Kläger daher spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr schutzwürdig. Jedenfalls sei aber eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nötig und geboten. Sollte eine solche – wie im vorliegenden Fall – nicht möglich sein, müsse, wie oben bereits dargelegt, auf die unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie oder der GCR zurückgegriffen werden können.

3.4 Einschätzung und Ausblick

Angesichts der zahlreichen Fragen, die der Gerichtshof im Laufe der mündlichen Verhandlung sowohl an die Niederlande als auch an die Kommission in Bezug auf die dogmatische Herleitung der unmittelbaren Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie und des Art. 16 GCR stellte, erscheint es wahrscheinlich, dass der EuGH von einer Unanwendbarkeit des § 7 HOAI 2013 ausgeht, sich aber noch über die dogmatisch sauberste Begründung klar werden muss. Fraglich erscheint derzeit daher mehr das „Wie“ als das „Ob“ der Unanwendbarkeit der in § 7 HOAI 2013 geregelten Mindestpreise. Offen ist auch der zeitliche Anknüpfungspunkt, der einerseits im Ablauf der Umsetzungsfrist oder der Verkündung des Vertragsverletzungsurteils und andererseits im Zeitpunkt des Abschlusses des betroffenen Vertrags und damit der jeweiligen Fassung der HOAI oder der letzten mündlichen Verhandlung im Aufstockungsklageverfahren gesehen werden kann. Da der Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht nur für zahlreiche weitere derzeit noch anhängige Aufstockungsansprüche nach der HOAI, sondern auch darüber hinaus für zukünftige vergleichbare Situationen von essentieller Bedeutung sein wird, wird das Urteil mit großer Spannung erwartet.

Die Schlussanträge des Generalanwalts wurden für den 15. Juli 2021 angekündigt. Ein Urteil könne noch vor Jahresende folgen. Auch darüber werden wir aktuell berichten.

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Ansprechpartnerin für Medienanfragen

Jennifer Wagener
Jennifer Wagener

Leitung Marketing, Business Development & Kommunikation

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